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Ich habe sehr lange gebraucht, um meine Gedanken zu Iron Widow in solche Worte zu fassen, mit denen ich schließlich zufrieden sein konnte. So lange, dass ich das Buch in der Zwischenzeit noch einmal lesen musste, um mir einzelne Details und vor allem die genauen Umstände vom Ende noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Kurzgefasst ist Iron Widow eine Verkörperung von „female rage“:
Wu Zetian bricht mit gesellschaftlich normierten Regeln, indem sie die Fragen nach Warum und Wer stellt: Warum sind manche Dinge als normal angesehen, während andere verschmäht werden? Warum funktioniert manches so, und nicht anders? Was würde passieren, wenn man es einfach einmal anders macht? Wer hat sich ursprünglich aus welchem Grund diesen einen Weg ausgedacht, und warum hält man sich heute immer noch daran?
Bevor Zetian anfängt, größer zu denken, beginnt eigentlich alles mit einem ganz persönlichen Problem: sie ist ein Mädchen, eine Frau, und das allein ist Grund für ihre Missachtung, ihre Misshandlung und Verstümmelung innerhalb ihrer Familie und ihrem Dorf.
Nicht umsonst ist das Zupfen ihrer Augenbrauen, mit dem sie einen Teil von sich selbst aufgibt und damit auf ihrem Weg zur Rache ein Schönheitsideal erfüllt, eine der ersten Szenen des Buches. Ihre Füße wurden als Kind zu Lotusfüßen verstümmelt, sodass sie nicht weglaufen oder selbstbewusst auftreten kann. (Pun not intended.) Sie ist in dem begründeten Wissen aufgewachsen, dass Frauen Besitz sind: Dienerinnen, Unterhaltungsprogramm, Objekt, an dem Mann seine Wut auslassen kann, Gebärmaschine. Und Einnahmequelle, wenn die Töchter zum Sterben ans Militär verkauft werden.
Aus dieser sehr persönlichen Hölle heraus entwickelt Zetian einen verständlichen Zorn und enorme Rachegelüste. Und während Iron Widow vielleicht besser doch nicht als Anleitung dafür gelesen wird, wie man eine bessere Welt erreicht, gibt diese dickköpfige, zornige und nach Vergeltung gierende Hauptfigur den Lesenden Raum, den eigenen Erfahrungen und dem eigenen Frust auf die Welt für eine Weile freien Lauf zu lassen.
Ich finde es beeindruckend, wie dey Autore (nonbinary – daher Neopronomen vom Verlag übernommen) es schafft, so viele gesellschaftliche Probleme in einen Roman zu verpacken, ohne es aufgesetzt wirken zu lassen. So oft bekommt man einen erzwungenen Eindruck, als hätte dieser oder jener Aspekt nachträglich noch irgendwie in die Geschichte gepresst werden müssen. Hier jedoch ergibt das alles einen Sinn:
Es ist für Iron Widow nötig, dass Frauen und Mädchen misshandelt und unterschätzt werden. Es ist nötig, dass Medienkonzerne übermächtig sind. Es ist nötig, dass alte (weiße?) Männer Entscheidungen über Dinge treffen, die sie selbst gar nicht recht verstehen oder deren Konsequenzen ihnen schlicht egal sind. Es ist nötig, dass die eigene Geschichte vergessen oder ignoriert wird, um eine politische Agenda durchzudrücken.
Dazu kommen Diskriminierung gegenüber Minderheiten, Sklaverei, Missbrauch von Minderjährigen, Machtmissbrauch auf unterschiedlichste Weise und so, so viel mehr. Diese Elemente werden erzählt als sorgfältig in die Handlung verwobene Details, die sich gar nicht exemplarisch herauspicken lassen. Und sie sind hervorragend eingesetzt, um während des Lesens immer wieder diesen schwelenden Zorn anzufachen, sodass wir Lesenden genau wie Zetian überzeugt davon sind, auf der richtigen Seite für die richtigen Dinge und gegen die richtigen Leute anzukämpfen, bis am Ende ganz kurz angedeutet wird, dass es vielleicht ein noch viel größeres Problem gibt. Dessen Existenz heißt nicht, dass alles, was Zetian getan hat, umsonst gewesen wäre – aber zumindest meine Neugier auf die Fortsetzung ist geweckt.
Ein weiteres Element, das Iron Widow für mich besonders macht, ist die Dreiecksbeziehung, die hier im Gegensatz zu den meisten anderen Geschichten auch tatsächlich ein Dreieck bildet. Wenn von einer Dreiecksbeziehung die Rede ist, dann haben viele so etwas wie Twilight vor Augen: ein Mädchen, dass zwischen zwei Jungs schwankt und sich irgendwie für einen von beiden entscheiden muss. Dabei wird die dritte Seite des Dreiecks – die zwischen den beiden Jungs – außer Acht gelassen.
Iron Widow dagegen beinhaltet das trope „why choose“ und Polyamorie, womit nicht nur Zetian Gefühle für zwei verschiedene Männer entwickelt, sondern diese Männer auch für sie – und, das macht die wirkliche Dreiecksbeziehung aus, auch füreinander. Ein perfektes Dreieck, das auch außerhalb ihrer Liebesgeschichte eine wichtige Rolle für den Verlauf der Handlung spielt.
Die bisher beschriebenen Aspekte bilden für mich die Grundlage von Iron Widow, die Basis und Struktur der Welt, in der die Geschichte spielt. Aber eigentlich, auf den ersten Blick erkennbar, haben wir hier eine Kombination aus actionreicher Science Fiction mit dystopischer Fantasy und der (bewusst historisch inkorrekten, es gibt extra einen Hinweis dazu im Buch) Nacherzählung einer historischen Figur: der einzigen Frau in der Geschichte Chinas, die sich „Kaiser“ (nicht Kaiserin) nennen konnte.
Ich möchte nicht behaupten, dass Iron Widow handwerklich unendlich besser ist als alles, was ich in den letzten Jahren gelesen habe. Es ist ein wirklich gutes Buch, erfindet jedoch in vielen Dingen das Rad nicht neu. Aber die vermittelten Werte, der wirklich aus jeder Zeile triefende female rage, der reflektierte Blick auf die politische Entwicklung so vieler westlicher Länder – das hat bei mir einen enormen Eindruck hinterlassen.
Noch nie hat ein Roman meine eigene Wut auf unsere patriarchale Gesellschaft so sehr angefacht wie dieses. (Dieses Sachbuch zum Thema Femizid schafft das allerdings sehr gut: Alle drei Tage. Warum Männer Frauen töten und was wir dagegen tun müssen) Noch nie hat ein Buch für mich einen solchen weiblichen Zorn ausgestrahlt. Und endlich hat die Heldin dieses Buches eine Chance auf die nötige Macht, um etwas zu verändern. Ob diese Veränderung etwas verbessert, bleibt abzusehen, aber die Dinge um Wu Zetian herum werden sich unvermeidlich ändern. Band 2 kann ich kaum erwarten – Heavenly Tyrant. Seele in Ketten erscheint im April.
Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar – und das geduldige Warten auf meine Rezension!
Titel: Iron Widow. Rache im Herzen
Autor*in: Xiran Jay Zhao
Übersetzung: Michaela Link
Reihe: Band 1 von 3
Verlag: Penhaligon
Gerne/Themen/Altersempfehlung: Science Fiction, Fantasy, Militär, Female Rage, Feminismus, Gesellschaftskritik, ab 16
Preis: 9,99 € (In deiner Lieblingsbuchhandlung kaufen)
ISBN: 978-3-641-28345-2
Erschienen: 01.03.2023
gelesenes Format: eBook, auch als Paperback erhältlich
Umfang: 544 Seiten
Besonderheit: Erstauflage im Paperback mit Farbschnitt
