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Dystopische Geschichten kenne ich bisher eher aus Jugendromanen für ältere Leser*innen oder aus der allgemeinen Belletristik, aber weniger im Kinderbuchbereich. Deshalb war ich sehr neugierig, wie Solartopia die Kombination aus Existenzangst, zweifellos gewaltvollen Strukturen und einem Fokus auf Klimathematik und Pflanzen als schützenswerte Lebewesen hinbekommen würde – und das irgendwie kindgerecht, immerhin wird das Buch ab 12 Jahren empfohlen.
Ich finde, diesen Spagat schafft Solartopia tatsächlich: Nach dem anfänglichen einfachen, aber idyllischen Leben in Turris schliddern Nova und Finn in die Utopie, die die titelgebende Stadt Solartopia repräsentiert, bevor diese glänzende Fassade nach und nach große Risse bekommt und sie schließlich in einem Grauen aus Arbeitslagern, Verschwörungen und dem Verrat durch die Reichen und Mächtigen ankommen. Über all dem schwebt ein dünner Schleier der Fantasy, sodass ich mich ständig gefragt habe, was als nächstes passieren würde – schließlich scheint alles möglich zu sein, wenn es mystischen Smog, Funken sprühende Pflanzen und Menschen gibt, die diese Pflanzen auf mysteriöse Weise kontrollieren können.
Für mich ist Solartopia die Geschichte eines Mädchens, das nach und nach den kindlichen Blick auf die Welt verliert und die Realität zu sehen lernt, während es gleichzeitig am Idealismus festhält und bereit ist, für eine bessere Welt zu kämpfen. Einige Entwicklungen der Handlung haben mich sehr überraschen können (dicker Pluspunkt!) und machen mich neugierig, wie die Geschichte in Band 2 fortgesetzt wird.
Allerdings hat die Schreibweise mich nicht recht fesseln können. Das kann und möchte ich nicht allein auf die Tatsache schieben, dass ich allein durch mein Alter nicht mehr zur Zielgruppe gehöre (es gibt genug Bücher für Kinder und Jugendliche, die auch mich noch vom Hocker hauen), sondern auf die teilweise einfach spannungslosen Szenen. Natürlich muss viel beschrieben werden, und natürlich sehen wir die Geschehnisse durch Novas Augen und nehmen damit ihren naiven Blickwinkel ein, aus dem alles groß und aufregend und neu ist, und in ihren einfachen Worten erzählt wird. Trotzdem hätte dieses Buch nach meinem Empfinden an so mancher Stelle gestrafft werden können.
Apropos naiver Blickwinkel von Nova: dass sie sechzehn Jahre alt ist, vergisst man schnell. Ich habe gegen Ende wirklich nicht mehr gewusst, wie alt sie ist, und extra für diese Rezension nochmal nachgelesen. Sie kam mir mehr wie eine Zehnjährige vor. Wie sollte Nova unter ihren besonderen Umständen auch all die Dinge lernen und die Erfahrungen machen, die in unserer Gesellschaft Jugendliche ausmachen? Dieser sehr junge Eindruck von ihr ist auch Grund dafür, warum mir eine bestimmte Szene gegen Ende zwischen Nova und Jeff sehr unangenehm war. Es fühlte sich einfach falsch an.
Ich kann mir eine erwachsenere Version dieser Geschichte sehr gut vorstellen, an ein Publikum von vielleicht 16, 17 Jahren gerichtet. Es könnten viel mehr Details aufgearbeitet werden, die hier nur kleine Randerscheinungen sind: Politische Strukturen, das Schulsystem der Solaris, die geheimen Rettungsmissionen von Jeff, die Tribute-von-Panem-artigen Außenbereiche mit dem glänzenden Solartopia im Zentrum, Armut und Hunger vs. überbrodelnder Reichtum, Verrat und Verschwörung, Klimaschutz und menschengemachte Umweltvernichtung, Existenz- und Zukunftsängste – das alles bietet großes Potenzial für eine Ausarbeitung für ältere Lesende.
Ich danke NetGalley und dem Verlag für das Rezensionsexemplar!
Originaltitel: Turris
Autor*in: Victoria Hume
Übersetzung: Katrin Segerer
Verlag: FISCHER Kinder- und Jugendbuch E-Books
Themen/Alter: Dystopie, Solarpunk, Klimawandel, Pflanzen, ab 12 Jahren
Preis: 14,99 € (kaufen auf genialokal.de)
ISBN: 978-3-7336-0538-4
Erschienen: 25.10.2023
Format: eBook, auch gebunden
Umfang: 320 Seiten